Fahrt ins ewige Eis Valérie Poiriers Parabel über das Alter am Genfer Théâtre de Poche |
Voyage vers les neiges éternelles La parabole de Valérie Poirier sur l’âge, au Théâtre de Poche de Genève |
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Weg vom Schuss oder, um es poetischer und mit dem Titel des Stückszu sagen: «Loin du bal», im gesellschaftlichen Abseits. So beschliessen alte Menschen bei Valerie Poirier, der zurzeit wohl interessantesten Autorin des' Westschweizer Theaters, ihr Leben. In der Inszenierung von Martine Paschoud am kleinen Genfer Theätre de Poche ist dieses Abseits ein eisiges Nirgendwo, ein von geisterhaften Pinguinen und fast ebenso gespenstischen Rentnern bewohntes Altersheim, in dem die barocke Allegorik des Lebensschiffs an ihr vorhersehbares Ende gelangt. Man rammt zwar keinen Eisberg, aber dass dieser huis clos Untergang und Hölle bedeutet, erfährt man be reits im Prolog, der, unterstützt von den Akkor deonklängen Marie-Claire Roulins, das Wort «alt» in solch inflationärer V ielfalt verwendet, als wäre es ein ansteckendes Virus Stillstand, Monotonie, Warten (aufs Essen, auf die Medikamente, auf den Besuch der treulosen Kinder, auf den Tod) sind die einzigen Beschäfti gungen dieser bornierten, auf eigenes Leid, Ent täuschungen und Lebenslügen fixierten Alten. Ein grossmäufiger Admiral im Rollstuhl, der durch rassistische Ausfälle die eigene Ohnmacht überspielt, eine zänkische Hundertjährige und ihJ altes, doch nie der Pubertät entwachsenes Mut tersöhnchen, eine verblühte Tänzerin, deren Le benslust in einer verrutschten Perücke gipfelt, und eine depressive Altkommunistin, die sich vom Pflegepersonal das Recht ertrotzt, die Böden wischen zu dürfen: Das sind die - von fünf teil weise hochbetagten Granden der Westschweizer Bühne gespielten - Protagonisten des Stücks. Und, um es gleich vorweg zu sagen: Was Maurice Aufair, Erika Denzler, Jean-Charles Fontana, Jane Friedrich und Monique Mani da in zwei Stunden an schauspielerischer Leistung an den Tag legen, gehört gewiss zu den derzeitigen Thea terhöhepunkten der Romandie. Zwar hat man zunächst das unangenehme Ge fühl, mit Klischees und matten Witzchen über das Altern abgespeist zu werden, doch dann kommt allmählich dramatische Fahrt und damit auch Tiefgang ins Geschehen. Wie schon in anderen Stücken von Poirier entsteht diese Bewegung durch die Ankunft eines Fremden. Hier ist es der uneheliche Sohn eines soeben verstorbenen Heimbewohners. Dieser wird nun zur Projek tionsfläche vergessener W ünsche und Begierden. Die Alten erwachen noch einmal zu vollem Leben. Man feiert, tanzt und singt, löffelt Kaviar aus der Dose. Selbst der Eros kehrt kurzfristig zu rück und versprüht seine- auch sprachlich- faszi nierende Magie. Doch dem wilden Treiben wird alsbald durch die autoritäre Intervention der Heimdirektorin (gespielt in imposanter Fülle von der Genfer Kabarettistin Loulou) ein Ende ge setzt, und kurzfristig sieht es ganz danach aus, als kehre man notgedrungen zur eingespielten Ord nung der Alters-Tristesse zurück. Hier aber beginnt nun der utopisch-poetische Einspruch der Autorin. Statt im Stumpfsinn der W iederholung endet das Stück mit einem surreal apokalyptischen Tableau: Die Alten rächen sich und befreien sich. Nach dem kollektiven Mord an ihrer Unterdrückerin verzehren sie, verwandelt in engelsgleiche Pinguine und begleitet von einem leisen Kichern aus dem Qtf, den aufgebahrten Leichnam des Opfers. Ein Stilbruch, gewiss. Doch erst dieser gewagte Schluss befreit das Stück end gültig von der Aura des Vaudeville. |
Loin de la mêlée ou, plus poétiquement dit, selon le titre de la pièce « Loin du bal », à l’écart du monde social. C’est ainsi, chez Valérie Poirier, actuellement l’auteure la plus intéressante du théâtre romand, que les personnes âgées achèvent leur vie. Dans la mise en scène de Martine Paschoud au petit Théâtre de Poche de Genève, ce «être à l’écart » est un nulle part glacial, un EMS peuplé de pingouins fantomatiques et de retraités presque aussi spectraux, où l’allégorie baroque du navire de la vie s’achemine vers sa fin prévisible. On n’éperonne, certes pas un iceberg, mais que cet huis clos signifie enfer et perdition, on le sait dès le prologue qui, soutenu du son de l’accord de Martine Roulin, emploie le mot « vieux » comme un virus contagieux.
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Sabine Haupt